Kinder, Frauen, Jesiden – wer überlebt hat, berichtet von Folter, Vergewaltigungen und Gehirnwäsche. Rund drei Jahre dauerte die Schreckensherrschaft der IS-Miliz in Syrien und Irak. Der Wiederaufbau wird länger dauern und mehr umfassen als Häuser.
Der Fluss Tigris durchzieht die zweitgrößte Stadt des Iraks und teilt Mosul in Ost und West. Das Westufer ist von Zerstörung gezeichnet, die Altstadt nicht mehr als eine einzige graue Trümmerlandschaft. Seit den letzten Bombardements im Juli 2017 kann hier niemand mehr wohnen.
Die Nouri-Moschee, von deren Kanzel Abu Bakr al-Baghdadi im Juli 2014 sein Kalifat ausrief, hatte die IS-Miliz auf ihrem Rückzug vorsorglich selbst in die Luft gesprengt, um den Gegnern diesen besonderen Triumph zu verwehren.
Im Juli 2017 erobert die irakische Armee Mossul zurück. Ruinen sind zu sehen. Ein Kämpfer der IS-Miliz hat sich ergeben. (Imago / Carol Guzy)
Es ist fraglich, ob die Altstadt dem Original getreu wieder aufgebaut werden kann. Bagdad will demnächst – im Rahmen einer großen Wiederaufbau-Konferenz – bekannt geben, welche Pläne es hat. Derzeit gilt als großer Fortschritt, dass die Trümmerlandschaft in Teilen wieder begehbar ist – nachdem mit internationaler Hilfe zahllose Sprengsätze beseitigt wurden.
In Ost-Mossul gibt es weniger Zerstörungen
Jüngste Schätzungen der Vereinten Nationen besagen, dass es noch Jahre dauern wird, bis alle Minen geräumt sind. Solange werden die einstigen Bewohner nicht zurückkehren können. Manche von ihnen haben Glück im Unglück: Sie haben überlebt und sind auf der anderen Seite des Tigris untergekommen, im Osten der Stadt. Der war schon im Januar 2017 von den Terroristen befreit worden. Erstaunlich ist: Dieser Teil Mosuls wirkt fast so, als wäre der „IS“ niemals hier gewesen und als hätte es keinen Krieg gegeben.
Im Osten Mossuls gibt es weniger Zerstörungen als im Westteil. (Björn Blaschke)
Die Zerstörungen beschränken sich auf strategisch-wichtige Punkte oder Gebäude, in denen sich die Terroristen verschanzt hatten: Brücken, Moscheen, Krankenhäuser. Doch im Basar herrscht fast so etwas wie Normalität. An Ständen kaufen Menschen ein – Obst, Gemüse, Reis und Nudeln, Backwaren. Kinder schlecken ein Eis. Abu Muhammad, ein ehemaliger Physiklehrer, erklärt, warum der Basar so anders ist als erwartet:
„Das Leben hatte nie aufgehört in Mosul. Wir haben weitergelebt. Drei Jahre wurden wir vom ‚IS‘ beherrscht, doch die normalen Leute hatten nichts damit zu tun. Daher kam der Alltag schnell zurück. Die Soldaten sind gekommen, haben den Basar wieder aufgemacht und das Leben ging weiter.“
Im Osten findet sich heute all das wieder, was die Terror-Miliz unterdrückt hatte und bei Missachtung grausam ahndete: Musik in Restaurants und Cafés; Sim-Karten für Handys; Internet; Frisöre, die Haare schneiden, Bärte stutzen oder gar abrasieren. Und doch: Trotz des lebendigen Treibens wirken Angst und Schrecken nach. Abu Muhammad, früh ergraut, erinnert sich:
„Wir haben uns gefühlt wie zwischen Leben und Tod. Irgendwo dazwischen. Sie haben vom ‚IS‘ gehört; wir haben ihn erlebt: Wir haben erlebt, wie sie mordeten, wie sie Leute aufhängten, wir haben den Krieg erlebt. Wir haben alles gesehen.“
Abu Mohammed stammt aus dem zerstörten Westen der Stadt. Er wohnt heute im Osten. Verwandte haben ihn und seine Familie aufgenommen. So wie ihm ergeht es auch anderen Vertriebenen. Sie leben bei Verwandten und Freunden. Oder in einem der vielen Lager. 700.000 Menschen haben ihr Zuhause verloren – eine Zahl, die für West-Mosul gilt. Insgesamt gehen die Vereinten Nationen von fast sechs Millionen Menschen aus, die im Irak vor dem ‚IS‘ geflohen sind – die Hälfte von ihnen bis heute fern von ihrem Zuhause.
Binnenflüchtlinge im Lager Khabartu
Zelte soweit das Auge reicht. Abertausende. Inmitten von Steppe. Das Leben der Menschen ist hart. Sie darben, frieren und verdorren – wenn im Winter der kalte Wind durch die Steppe fegt und im Sommer die Sonne niederbrennt. Doch sie harren aus, haben wenig Hoffnung auf baldige Rückkehr. Die meisten kamen 2014 – hierher, ins Lager Khabartu in Irakisch-Kurdistan.
Das Lager Khabartu für irakische Binnenflüchtlinge. (Björn Blaschke)
2014, als der „IS“ den Nord-Irak überfiel. In einem der Zelte lebt auch die Familie von Thomas Abdallah Hammou. Thomas war auf der Flucht von seiner Familie getrennt und von den Dschihadisten verschleppt worden. Damals war er acht Jahre alt. Ein Kind. Drei Jahre blieb er in Geiselhaft, lebte in Mosul.
„Sie wollten nicht, dass wir spielen. Sie mochten es nicht. Ich habe keine Schule besucht, aber sie gaben uns Koran-Unterricht. Jeden Tag.“
Thomas musste seinem eigenen, dem jesidischen Glauben abschwören. Weil der „IS“ die Jesiden als „Ungläubige“ betrachtet. Und „Ungläubige“, so die Auffassung der Terroristen, müssen zwangsbekehrt werden. Oder getötet. Die Terroristen hatten dementsprechend die Jesiden entweder an Ort und Stelle ermordet, die meisten im Sinjar, im alten Siedlungsgebiet der Jesiden im Nord-Irak. Tausende. 47 Massengräber sollen mittlerweile gefunden worden sein. Oder aber die Terroristen ließen die Jesiden am Leben und nahmen sie in Geiselhaft. Sie machten aus ihnen Sexsklavinnen oder sie bildeten sie aus – zu Selbstmordattentätern. Wie Thomas.
„Sie haben uns ständig geschlagen. Wir mussten Schießen üben. Zwei meiner Freunde haben sich in die Luft gesprengt. Sie sind zum Training. Doch sie kamen nicht zurück. Ich war nicht traurig. Sie wollten sich ja in die Luft sprengen. Die ‚IS‘-Leute hatten es nicht von ihnen verlangt. Sie sind freiwillig gegangen.“
Thomas hat heute einen modernen Haarschnitt; der Nacken ist ausrasiert; der lange Pony in die Stirn gekämmt. Im Sommer sah er noch anders aus, kurz nachdem Mosul befreit worden war. Bei einem Luftangriff der Anti-„IS“-Koalition wurde Thomas schwer verletzt aus Trümmern geborgen, dann operiert.
Thomas erholt sich von drei Jahren IS-Gefangenschaft. (Björn Blaschke)
Arbeit mit „Dschihadisten-Kindern“
Die äußeren Wunden sind heute verheilt. Doch wie sieht es aus mit den inneren, den seelischen Verletzungen? Thomas wurde von seiner Familie aufgenommen und bekommt Hilfe. Andere Kinder konnten nicht aufgefangen werden. Bis heute betrachten sie Jesiden als „Ungläubige“ – so wie es ihnen in der Geiselhaft eingehämmert wurde.
„Sie sind eine große Gefahr für andere Kinder. Sie leben in Lagern, in einem Zelt, auf sechs mal vier Metern, oder noch weniger! Acht Geschwister, sie spielen zusammen, reden, sie indoktrinieren die anderen! Das ist ein Problem, das wir nicht lösen können.“
Sara Hassan ist Sozialarbeiterin. Sie arbeitet in den Lagern, versucht Mädchen und Frauen, die jahrelang in Geiselhaft vergewaltigt wurden, zu helfen. Unzählige hatte der „IS“ einst entführt. Sara arbeitet auch mit den sogenannten „Dschihadisten-Kindern“. Sie erzählt, wie überfordert alle seien: die Familien, die jesidische Gemeinschaft, die Gesellschaft des Nord-Irak.
„In einem anderen Fall hat sich die Familie am Ende an die Sicherheitskräfte gewandt. Doch die wussten auch nicht, wie sie damit umgehen sollten. Monate lang hat die Familie versucht, den Jungen umzuerziehen, zusammen mit Sozialarbeitern. Aber noch immer sehen wir den Hass in seinen Augen – gegenüber Kurden, Christen und Jesiden. Als blicke man in die Augen eines IS-Terroristen. Das ist das Problem.“
Immerhin: Die Jesiden können über ihre vom „IS“ indoktrinierten Kinder sprechen. Denn niemand zweifelt daran, dass sie Opfer der Tyrannei wurden. Bei den sunnitischen Arabern sieht das anders aus. Da sie derselben Religionsgruppe angehören wie formal auch die Terroristen, stehen sie unter Generalverdacht, mit dem „IS“ gemeinsame Sache gemacht zu haben. Sunnitische Araber trauen sich daher nicht, die Probleme ihrer Kinder öffentlich zu machen – auch wenn sie selbst nichts mit dem „IS“ zu tun hatten.
Unklar ist, wie viele Kinder und Jugendliche im Irak und in Syrien zu Terroristen ausgebildet wurden, dabei noch in Geiselhaft sind oder bereits als „Schläfer“ darauf warten, zum Einsatz zu kommen. Sie gleichen „tickenden Zeitbomben“, die jederzeit explodieren können.
Minderheiten haben Angst vor „IS“-Nachfolgern
Kamaran Palani spricht davon, dass viele Menschen immer noch gehen wollen, obwohl der „IS“ als staatsähnliches Gebilde nicht mehr besteht. Seine Saat aber, so der Politikwissenschaftler, sei aufgegangen.
„Sie wollen einfach nicht in diesem Land bleiben. Der IS hat sie dazu gebracht. Jeder hat heute Angst, dass eine andere Organisation kommen wird, Terroristen, die dasselbe anrichten wie zuvor.“
Palani forscht am „Middle East Research Institute“, das seinen Sitz in Erbil hat, der Hauptstadt von Irakisch-Kurdistan.
„60 bis 65 Prozent der Christen wollen gehen. Das Gleiche gilt für andere Minderheiten: für Jesiden, Schabaks, Turkmenen, Kakais.“
„Wir werden niemals wieder mit den Arabern zusammenleben können!“ – ein Satz, der heute häufig im Nord-Irak zu hören ist. Gemeint sind die Iraker, die Sunniten und Araber sind – die einstmals Nachbarn von Jesiden, Christen und Kurden waren – mit denen man Handel trieb und Hochzeiten feierte, die auch Freunde waren.
Der Irak ist eine multi-ethnische und multi-religiöse Gesellschaft, in der die Schiiten die Mehrheit stellen. Über Jahrhunderte aber hatten die sunnitischen Araber das Sagen, sie missbrauchten die Macht, errichteten ein Schreckensregime – bis 2003, als Diktator Saddam Hussein von den USA gestürzt wurde.
„IS“ entstand aus Widerstand gegen Schiiten-Herrschaft
Jetzt wurde der Spieß umgedreht. Die Amerikaner sorgten dafür, dass die Sunniten jegliche Machtposition verloren – so wurde die irakische Armee, wurde die baathistische Partei aufgelöst – ohne ein Pendant zu schaffen, das alle integrierte. Und: Washington unterstützte Regierungschef Nouri al-Maliki, einen Schiiten. Maliki sah eine historische Chance gekommen, diskriminierte nun seinerseits seine sunnitischen Landsleute, verwehrte ihnen im „Neuen Irak“ die Mitsprache. Im Regime Malikis wurden Sunniten inhaftiert, gefoltert und umgebracht.
Was viele in den Widerstand trieb. Einige schlossen sich der Terror-Organisation „Al-Qaida“ an, unter ihnen führende Militärs der aufgelösten Armee Saddam Husseins – und aus „Al-Qaida“ ging später der „IS“ hervor.
Als der „IS“ dann im Sommer 2014 fast ohne Gegenwehr weite Landstriche in Syrien und im Irak überrannte und seinen „Staat“ ausrief, sahen auch gewöhnliche sunnitische Araber einen Wechsel nahen. Viele machten gemeinsame Sache mit den Terroristen, verhinderten die Flucht jesidischer Nachbarn, lieferten sie ihren Schlächtern aus. Kamaran Palani:
„IS“-Kämpfer haben gesagt, es gehe darum, die Würde der sunnitischen Araber wiederherzustellen. Ihre Macht. Ihre Geschichte. Tatsächlich konnten es die Araber nicht hinnehmen, dass sie ins Abseits gedrängt wurden. Und ich denke, dass sie auch in Zukunft so handeln werden. Wann immer sich die Gelegenheit bietet: Sie werden alles hinter sich lassen – sich nur darauf konzentrieren.“
Misstrauen. Auch bei einem Politikwissenschaftler. Was also tun? Zerstörte Städte und Dörfer könnten wieder aufgebaut werden – wenn denn ein gemeinsamer Wille bestünde. Doch was, wenn es einen solchen gemeinsamen Willen gar nicht gibt? Wenn Schmerz und Trauer anhalten, wenn die Verbrechen von Terroristen und Helfershelfern nicht geahndet werden, wenn Angst umgeht, Misstrauen und Hass das Miteinander bestimmen.
Soldaten in der irakischen Stadt Sindschar nach der Rückeroberung von der IS-Miliz Ende 2015. (dpa / MAXPPP / Arnaud Dumontier)
Kamaran Palani stammt aus der Stadt Makhmour. Drei Tage nur sei der „IS“ dort gewesen, sagt er, doch diese Tage hätten alles verändert. Der „IS“ habe die Menschen in seiner Heimatstadt verrohen lassen, meint er, das Verhältnis zwischen Kurden und Arabern sei heute tot. Eine Rückkehr in alte Zeiten hält Palani für falsch.
„Ich denke, es wäre nicht einfach, in das Jahr 2014 – also in die Zeit vor dem ‚IS‘ – zurückzukehren. Vor allem aber wäre es nicht die richtige Politik. Denn eben die hat ja erst zum Aufkommen, zur Existenz des ‚IS‘ geführt.“
Wie also in Ruinen Neues schaffen? Der Staat muss das Gewaltmonopol zurückerlangen, fordert der Politikwissenschaftler. Für ihn steht das an erster Stelle. Und dann müsse der Staat dringend einen Kurswechsel vornehmen: Er müsse integrativ wirken, alle einbinden, auch die Araber, in Sicherheitskräfte, Verwaltung und Politik.
Machtmonopol müsste von Milizen zum Staat gehen
Die Realität sieht anders aus: Ein Staat Kurdistan, der neue Optionen möglich gemacht hätte, auch von den Minderheiten gewünscht worden war, ist nicht entstanden. Bagdad aber ist fern, der Zentralstaat kaum existent, und wenn, dann ist er schiitisch dominiert. Es sind Milizen, die im Nord-Irak das Geschehen bestimmen, darum rivalisieren, das Machtvakuum zu füllen, das durch die Vertreibung des „IS“ entstanden ist. Einst im Kampf gegen die Terroristen geeint, sind die Milizen einander heute feind.
Allen voran die „Hashd ash-Shaabi“, schiitisch-irakische Milizen, deren Ausbilder und Kommandeure häufig Iraner sind. Bagdad hat die Haschd als reguläre Kraft im Kampf gegen den „IS“ anerkannt – obwohl Menschenrechts-Organisationen schwere Vorwürfe gegen sie erheben. Fest steht: Die schiitischen Milizen halten Dörfer besetzt, sind in Mosul für ihr herrisches Auftreten und ihre Willkür bekannt.
„Tatsächlich sorgen die verschiedenen bewaffneten Gruppen dafür, dass die Flüchtlinge nicht zurückkehren. Und weil sie nicht zurückkehren, gibt es auch keinen Wiederaufbau. Die Menschen haben Angst vor den Milizen – auch davor, dass die einander bekämpfen.“
Die „Hashd“ müssten mithin abziehen. Und mit ihnen die anderen Milizen. Das Machtmonopol müsste an den Staat gehen. Doch der Irak ist auch Spielball der Regionalmächte: Iran, Türkei und Saudi-Arabien. Sie konkurrieren um Einfluss-Sphären, bedienen sich dabei verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen im Irak. Deswegen werden die Hashd nicht abziehen. Derzeit sind sie von der iranisch-irakischen Grenze im Osten über Bagdad bis hoch zur irakisch-syrischen Grenze im Norden postiert. Einheiten Teherans könnten demnach auf dem Landweg vom Iran bis ans Mittelmeer durchmarschieren.
Iran und Saudi-Arabien wollen Macht vergrößern
Tatsächlich ist der Iran bestrebt, in der Region weiter an Einfluss zu gewinnen und scheut dafür weder Kosten noch Mühen. Die meisten arabischen Staaten reagieren mit Abwehr. Zu deren Anführer hat sich das Königreich Saudi-Arabien gemacht. König Salman und Kronprinz Mohammed setzen alles daran, den Erzrivalen Iran zu diskreditieren – und ihrerseits Einfluss und Macht zu vergrößern.
In ihrem Kampf um die Vormacht bedienen sich die Regionalmächte der Rhetorik. Und sie hetzen ihre jeweiligen Stellvertreter militärisch aufeinander: Im Jemen. Im Libanon. Und bis vor kurzem in Syrien. Dabei spielen sie die religiöse Karte: Die schiitische Führung in Teheran bedient sich williger Schiiten – und das sunnitische Riad ebenso williger Sunniten. Dass Teheran und Riad bei ihren Stellvertreter-Konflikten religiöse Bezüge herstellen, hat in den Gesellschaften des Nahen Ostens Gräben, die es bereits seit langem gibt, weiter vertieft.
Die Lage im Nahen Osten ist heute nicht minder komplex, nicht minder verfahren als zuvor. Obwohl das staatsähnliche Gebilde des „IS“ zerstört, er selbst militärisch empfindlich geschwächt wurde.