Felix Klein hat verstanden

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Einen Monat nachdem ich zur israelischen Armee eingezogen worden war, brach die erste Intifada aus. Statt Soldat zu sein, machte ich Polizeiarbeit, sagte den Menschen, wann sie zur Arbeit gehen konnten und wann sie ihre Läden schließen mussten, wann sie die Grenze passieren und wann sie schlafen konnten. Einen Monat nachdem ich aus der Armee entlassen worden war, ging ich auf Reisen. (In Israel sagen wir: Wir dienen drei Jahre und versuchen den Rest unseres Lebens, diese drei Jahre zu vergessen.) Auf meiner Reise begann ich Briefe an meine Freundin zu schreiben, die ich in Israel zurückgelassen hatte.

Ich schrieb ihr, wie schrecklich depressiv ich war und dass diese drei Jahre des Anweisungenbellens und Anderen-Menschen-Sagens, was sie zu tun haben, mich für immer verfolgen würden. Dass sie ein Teil dessen geworden waren, was ich bin. Ich erinnere mich, dass ich ihr schrieb, dass wir da rausmüssen – nicht nur für die Palästinenser, sondern wegen der furchtbaren und brutalen Auswirkungen, die all das auf uns, auf die israelische Gesellschaft haben würde. Sie schrieb zurück: „Du hast recht. Ich habe einen neuen Freund.“

Felix Klein wurde als Beauftragter der Bundesregierung berufen, um die Auswirkungen des zunehmenden Antisemitismus in unserer Gesellschaft, in Deutschland, zu bekämpfen. Was nicht in seiner Jobbeschreibung steht, ist, dass er dabei unsere Gesellschaft heilen muss, jene Gesellschaft, die diese Form des Hasses reproduziert und schützt. Klein hat das begriffen.

Er versteht, dass man Krebs nicht mit einem Pflaster verarztet, er weiß, dass er das Bewusstsein der Deutschen schärfen und Diskussionen anstoßen muss. Er hat begriffen, dass das Problem nicht nur an den Rändern der Gesellschaft (bei den Rechten) liegt, sondern auch in ihrer Mitte. Dort, wo gebildete Menschen nicht einmal bemerken, dass das, was sie sagen und tun, antisemitisch ist. So wie sie es auch nicht merken, wenn sie rassistisch handeln. Er hat all das verstanden, und genau deshalb wollen einige, dass er seinen Posten räumt.

Mehr als 60 deutsche und israelische Intellektuelle haben letzte Woche in einem Brief an Kanzlerin Merkel darüber geklagt, dass der aktuelle „Gebrauch des Antisemitismusbegriffs“ darauf abziele, „legitime Kritik an der israelischen Regierungspolitik zu unterdrücken“, und Klein vorgeworfen, rechtspopulistische israelische Stimmen zu fördern.

Faszinierend an diesem offenen Brief ist, dass viele der Unterzeichneten keine Deutschen sind und auch nicht in Deutschland leben. Ich weiß nicht, woher sie – die meisten von ihnen sind Israelis – die Chuzpe haben, sich in eine innerdeutsche Angelegenheit einzumischen und zu fordern, eine Person zu entlassen, die von der Bundesregierung eingesetzt wurde. Die Hälfte der Unterzeichneten lebt nicht hier, von der anderen Hälfte sind viele keine Juden – somit sind die allermeisten von ihnen nicht direkt vom Antisemitismus in Deutschland betroffen. Wie also können sie diesen Brief unterschreiben? Und warum eigentlich haben so wenige Deutsche unterschrieben? Dazu komme ich gleich.

Debatte um Achille Mbembe

Hintergrund des Briefs war, dass Felix Klein gefordert hatte, den Philosophen Achille Mbembe nicht die Eröffnungsrede der Ruhrtriennale halten zu lassen. Als mit öffentlichen Mitteln gefördertes Event solle die Ruhrtriennale Mbembe wegen seiner Haltung zu Israels Existenzrecht, seiner Haltung zu BDS und der Art, wie er in einem seiner Werke den Holocaust relativiert, nicht einladen.

Mbembes Unterstützer sagen, keine dieser Anschuldigungen sei wahr. Fürs Protokoll: In meinen Augen unterstützt Mbembe sehr wohl BDS, er schrieb unter anderem das Vorwort zu „Apartheid Israel“ und fordert die komplette Isolation Israels. Ich glaube auch, wenn Mbembe schreibt, die israelische Besetzung sei der „größte moralische Skandal unserer Zeit“, zeigt das, dass sein moralischer und geografischer Kompass etwas schief ist.

Doch warum treibt die Debatte so viele Menschen um? Nun, zunächst gibt niemand gern auf, was ihm oder ihr selbstverständlich scheint. Über den gesamten politischen, sozialen, kulturellen, medialen und akademischen Sektor hinweg sind Menschen daran gewöhnt, so schlecht über Israel sprechen zu können, wie auch immer sie wollen.

Der Spiegel hat – vielleicht in Anlehnung an seine Relotius-Standards, Israel erst kürzlich eine Corona-Diktatur genannt. Fakten und Belege für diese Behauptung gab es nicht. Doch Millionen Deutsche haben es gelesen, und es wird natürlich haften bleiben. Faktenlage hin oder her. Der Spiegel und andere Medien haben dieses Spiel perfektioniert: Titel so zu drehen, dass sie Israel indirekt anklagen, die Idee zu streuen, der Mossad kon­trol­liere die deutsche Außenpolitik im Nahen Osten, und so fort. Doch sie stehen allesamt sofort auf den Hinterbeinen, wenn jemand es wagt, das Spiel beim Namen zu nennen: moderner Antisemitismus.

Klein will dem entgegenwirken. Er versteht, dass antisemitische Attacken in Deutschland die Früchte solch falsch gezeichneter Bilder und eindimensionaler Narrative über Israel sind. Wenn er und andere versuchen, ein anderes Narrativ aufzuzeigen, wirft man ihnen Zensur vor: Wie können sie es wagen, das Geschäft der Anti-Israel-Propaganda zu stören?

Liebe Deutsche, wenn ihr reden wollt, lasst uns gern reden: über die Besetzung, über Bibi und alles, was schiefläuft. Aber dann lasst uns bitte auch darüber reden, wie deutsche Steuergelder Terrortunnel finanzieren. Erst vergangene Woche räumte die niederländische Regierung ein, dass Gelder an eine Landwirtschaftsorganisation in Ramallah geflossen seien, die damit teilweise die Gehälter zweier des Mordes an der 17-jährigen Israelin Rina Shnerb Verdächtiger gezahlt haben. Auch die Bundesregierung unterstützt diese Organisation, obwohl Kritiker schon lange vor Verbindungen zu Terroristen warnen.

Wir können uns also gerne unterhalten – aber im Dialog, nicht in Monologen. Denn Reden unter Menschen, die sich einig sind, ist nichts anderes als Impotenz.

Israelkritik als Eintrittskarte

Die Israelis, die die Petition unterzeichnet haben, haben übrigens ebenfalls etwas verstanden. Seit Jahren wissen sie: Es ist ihre Eintrittskarte in die Mitte der deutschen (und europäischen) Gesellschaft. Man hört nicht oft von Akademikern mit proisraelischen Ansichten. Weder in den Philharmonie-Orchestern noch in der Kunstszene. Die Eintrittskarte dafür ist ein antiisraelischer Standpunkt.

Der mutmaßliche Grund, warum kaum Deutsche die Petition unterzeichnet haben: Sie mussten es nicht. Ihre Lieblingsjuden haben es für sie getan. Jetzt können sie sagen: „Schau, ich bin das ja nicht, meine jüdischen Freunde sagen es.“ Ich selbst war einige Jahre lang mit einem Paar hier in Berlin befreundet, bis ich herausfand, dass ich ihr Lieblingsjude war. Ja, selbst das jüdische Museum wurde so genutzt.

Weil Attacken gegen Juden ein absolutes Tabu sind, wurden Umwege gefunden, um den Antisemitismus auf kleiner Flamme köcheln zu lassen: die unfundierte, unbegründete Kritik an Israel.

Diese Art der Kritik ist gefährlich. Sie schwächt jede begründete und notwendige Kritik am Verhalten Israels. Und das Interessante ist: Trotz all der heftigen, pauschalisierenden Anklagen, all der offenen Briefe driftet Israel politisch immer weiter nach rechts. Doch statt mal einen anderen Ansatz zu versuchen, werden die antiisraelischen Stimmen nur lauter. Dasselbe versuchen und andere Ergebnisse davon erwarten – das ist die Definition von Wahnsinn.

Kurz bevor der Prozess gegen den wegen des Attentats von Halle Angeklagten begann – des seit Kriegsende schlimmsten Akts von Antisemitismus in Deutschland –, lud eine Lokalzeitung den früheren Botschafter Shimon Stein und den Historiker Moshe Zimmermann ein, darüber zu schreiben, was Antisemitismus ist. Natürlich wendeten auch sie sich gegen Felix Kleins Ansatz. Sie zitieren die Kontroverse um die Umbenennung der U-Bahn-Station Mohrenstraße in Glinkastraße, die sich darum drehte, dass der russische Komponist Michael Glinka Antisemit gewesen sein soll. Stein und Zimmermann halten die Debatte für überzogen, Glinka sei nur ein Kind seiner Zeit gewesen. Folgt man ihrer Logik, können wir dann also in 20 oder 30 Jahren U-Bahn-Stationen nach den Kindern der 1930er Jahre benennen?

Der Antisemit als Tierfreund

Ich wünschte, die Sache hätte mit dem Artikel, mit der Petition geendet. Doch dann erschien ein Artikel, der den Leser auf einen Waldspaziergang mit einem veganen Koch und Antisemiten mitnahm. Darin setzt der Tierfreund erst behutsam einen Käfer wieder auf seine Beinchen und erklärt dann, dass die Todesstrafe in Deutschland wieder eingeführt werden solle, um einen gewissen Politiker (der zufällig pro Israel ist) an seinen Hoden aufhängen zu können. Dieser Koch hat Hunderttausende Follower, er sagt all solche Dinge am helllichten Tag in Berlin. Und in den Medien.

Fälle wie dieser handeln bereits von Gewalt – und sie enden nicht bei den Juden. Der Hass richtet sich gegen Frauen, Muslime, Geflüchtete, ­LBTQI. Am Ende aller theoretischen Debatten stehen immer echte Menschen. Am Ende jeder Konferenz darüber, was Antisemitismus ausmacht, steht ein potenzielles jüdisches Opfer. Angesichts einer Welle von Antisemitismus über die Definition von Antisemitismus zu streiten ist, wie eine 10 Meter hohe Welle heranrollen zu sehen und darüber zu streiten, was einen Tsunami ausmacht.

Felix Klein versteht, wie absurd es ist, zu sagen: Es sind nur die Rechten. Die Rechten sind Deutsche, so wie die Nazis Deutsche waren. Klein versteht, dass die Deutschen nicht aufgehört haben, Juden zu ermorden, weil sie irgendeine Art von Erleuchtung hatten. Sondern schlicht, weil sie den Krieg verloren haben. Um den Antisemitismus zu bekämpfen, bevor er die Gesellschaft frisst, in der er und wir leben, muss Deutschland seinen moralischen Kompass korrigieren.

Immerhin: Mehr und mehr Deutsche fahren nach Israel, sie wollen ein anderes Narrativ hören. Mehr und mehr Deutsche verstehen, dass Antisemitismus Schockwellen auslöst, die die gesamte Gesellschaft betreffen. In einem normalen Universum würde Klein befördert werden für seine Leistung. In einer verdrehten Gesellschaft fordern Menschen seine Entlassung. Um es mit Mbembe zu sagen: Das ist Nano-Nonsens.

Übersetzung: Ariane Lemme

DCTransparency Editorial

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