Hagia Sophia: Verengung und Verarmung eines Welterbes

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Die Hagia Sophia war (ist) ein kulturelles Weltwunder und aufgeladen mit symbolischer Bedeutung, für die Christenheit ebenso wie für den Islam – und den türkischen Nationalismus. Als Mehmed II. sie betrat, war sie schon fast 1000 Jahre die größte Kirche der christlichen Welt und das Zentrum der orthodoxen Glaubensrichtung. Die “Ayasofya”, wie sie dann hieß, war 500 Jahre lang Moschee – bis 1934, als Kemal Pascha Atatürk, der “Vater” der modernen Türkei, sie in ein Museum verwandelte, in der ausdrücklichen Absicht, auch hier mit dem osmanischen Erbe zu brechen.

Nun wird Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der “Vater” der re-islamisierten Türkei, am 24. Juli dieses Jahres die Ayasofya durch das Freitagsgebet wieder in den Islam eingliedern. Oder eher in seinen persönlichen religiösen Nationalismus.

Welterbe von allen

Wie bedeutungsschwer ist dieser Akt eines “starken Mannes”, der innenpolitisch deutlich schwächelt? Die Proteste vor allem aus der orthodoxen Welt, aber auch aus Europa und den USA sind eher traurig als wütend. Der Papst drückte seinen “Schmerz” aus. Auch der Jubel in der islamischen Welt fiel zunächst weniger überschäumend als erwartet aus.

Ist es der Alleingang eines Autokraten in Bedrängnis oder ist “der Jubel über die Eroberung der Hagia Sophia der Versuch einer zutiefst erniedrigten, vom Gefühl der Wertlosigkeit dominierten und in ihrer eigenen Selbstberechtigung beraubten Gesellschaft, eine Bedeutung, eine Stärke, ein Selbstwertgefühl zu finden”? So recht pauschalierend der in Deutschland lebende palästinensische Intellektuelle und Psychiater Ahmad Mansour.

Die beiden Großreiche, das byzantinische und das osmanische, sind längst versunken.

Das eigentliche Schlüsselwort im Zusammenhang mit der Hagia Sofia ist “Welterbe”. Das Erbe von allen. Einmal im kulturellen Sinn der Unesco, aber in Wahrheit weiter gefasst. Das einzigartige Bauwerk gehört in Wirklichkeit der ganzen Welt, nicht der einen oder anderen Religion. Die beiden Großreiche, für die die Hagia Sofia der zentrale spirituelle Bau war, das byzantinische und das osmanische, sind längst versunken. Seither hat sie eine neue, übernationale Dimension erhalten. Was Erdoğan da jetzt mit der Hagia Sofia macht, ist eine Verengung und Verarmung eines gemeinsamen Welterbes.

Betende Muslime vor der Hagia Sophia.

Davon abgesehen aber war und ist sie ein architektonisches Meisterwerk und gehört zu den bedeutendsten Bauten der Welt. Wer heute den Zentralraum unter der Kuppel betritt, kann sich nur schwer dem zugleich majestätischen wie schwebenden Gesamteindruck entziehen. Die Hagia Sophia blieb fast 1000 Jahre die größte Kirche der Christenheit. Technisch war die Kuppel (mit mehreren Halbkuppeln) eine überaus riskante Innovation: Die 55 Meter hohe und 32 Meter im Durchmesser breite Kuppel ruht auf nur vier Tragpunkten, was den schwebenden, schwerelosen Eindruck erzeugt. Die Konstruktion folgt einem mathematischen Prinzip, das erst kürzlich entschlüsselt wurde.

“Salomo, ich habe dich übertroffen!”

Als Kaiser Justinian die Hagia Sophia nach nur fünf Jahren Bauzeit (532–537) betrat, soll er in Anspielung auf den Tempel in Jerusalem ausgerufen haben: “Salomo, ich habe dich übertroffen!” Die Innenausstattung war mit ihren Säulen aus Porphyr und grünem Marmor, mit Mosaiken aus Gold und Halbedelsteinen derart prunkvoll, der Gesamteindruck derart überirdisch, dass eine Delegation des Großfürsten von Kiew nicht mehr wusste, “ob wir im Himmel oder auf der Erde” waren – was die Christianisierung Russlands beförderte.

Der deutsche Architekturlehrer Holger Kleine nennt die Hagia Sophia “absolute Architektur”, weil sie “extreme Ausdrucksformen nahezu aller dramaturgischen Mittel, die der Architektur zur Verfügung stehen, vereinigt: wuchtigste Körper und luftigste Räume, engste Enge und größte Weite, wärmende Helligkeit und mystisches Dunkel”. Und die Kuppelbauten aus der späteren Hochblüte der Moscheenarchitektur im 16. und 17. Jahrhundert gehen eindeutig auf die Hagia Sophia zurück.

Die Hagia Sophia war Staatskirche des byzantinischen Reichs. Für die Eroberer der letzte Schlussstein in der Kuppel osmanisch-muslimischen Herrschaftsanspruchs. Konstantinopel war ja 1453 nur noch eine isolierte, heruntergekommene Enklave in einem osmanischen Umfeld, kein christliches Heer kam zu Hilfe. Doch vorher war es zugleich Sperrriegel nach Osten und Geistesarchiv der antiken Kultur gewesen. “Ohne Byzanz hätte es kein Europa gegeben”, sagt die britische Altertumsforscherin Judith Herrin.

Freigelegtes Mosaik von “Christos Pantokrator”.

Neue Fragen

Die Kirche wurde von Mehmed II. und Nachfolgern nicht in der Substanz zerstört, sondern “entchristlicht”. Die ursprünglich übertünchten oder auch abgeschlagenen Mosaiken mit den Darstellungen von Christus, der Muttergottes, diversen Kaisern kamen zum Teil schon unter einem Sultan des 19. Jahrhunderts, dann großteils nach der Museumswidmung wieder zum Vorschein.

Jetzt stellen sich neue symbolisch-praktische Fragen. Erdoğan hat die Hagia Sophia der konservativen staatlichen Religionsbehörde Diyanet unterstellt. Die byzantinischen Mosaike, wie der großartige “Christos Pantokrator” (“Weltenherrscher”) oder die Jungfrau Maria in der Apsis, müssen wohl während des islamischen Gottesdiensts verhängt werden. Muss der Boden mit seinen Marmorplatten und Mosaiken mit einem Teppich bedeckt werden? Erdoğan sagt, Touristen seien nach wie vor zugelassen. Aber sie werden wohl hinter Absperrungen bleiben müssen. Frauen werden – wie in der benachbarten “Blauen Moschee” (“Sultanahmed”) Kopftuch tragen müssen.

Erdoğan mit Gattin in der Hagia Sophia.

Erdoğans neue Abenteuer

Aber wird da nicht doch zu viel in einen Formalakt rund um ein uraltes Bauwerk hineininterpretiert? Im geschichtlichen Kontext relativiert sich manches: Konstantinopel wurde schon von Christen erobert und ausgeplündert – 1204 im Vierten Kreuzzug. In der Moschee von Cordoba (“Mezquita”) bauten die Katholiken eine ganze Kirche in den berühmten Säulenwald hinein. Die Mezquita ist heute noch Kirche, kein Museum.

“Das ist der Beweis, dass wir kein säkularer Staat mehr sein wollen”, sagt Nobelpreisträger Orhan Pamuk. Erdoğan betrachtet sich offenbar als auch neoosmanischer “Fatih” im Mittelmeerraum mit immer neuen Abenteuern: Eingreifen in Syrien, Stellvertreterkrieg in Libyen, Ansprüche auf Erdgasvorkommen weit vor der türkischen Küste bei Zypern, Reden, wonach manche Ägäis-Inseln eigentlich zur Türkei gehören, “denn dort stehen unsere Moscheen”. Manches davon ist nur Rhetorik, aber genug anderes ist riskante Realität. (Hans Rauscher, 14.7.2020)

Quelle

DCTransparency Editorial

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